… In meinem Reiseführer wird Jenin als „Stadt im Wandel“ beschrieben. Von der „gefürchteten Hochburg von Selbstmordattentätern“ entwickelt sich Jenin hin zu einem „kleinen Paradies mit großen Plänen für die Zukunft“ (Süddeutsche). Jenins neues Motto lautet: Touristen anstatt Terroristen!
In Jenin wurde ich von einem netten Taxifahrer zu meinem Ziel, dem „Cinema Jenin“, gefahren. Da stand ich nun, das Cinema war geschlossen, vom Guest House keine Spur und die Telefonnummer in meinem Reiseführer war auch nicht mehr aktuell. Am Eingang des Cinema fand ich schließlich eine Handynummer die auf einen kleinen Zettel gekritzelt war. Ich rief an, jemand meldete sich, ich sagte, dass ich vor dem Cinema stehe und das Guest House suche – dann brach die Verbindung ab. Cellcom, wie oft habe ich dieses Netz schon verflucht! Drei Minuten später, ich war gerade dabei eine Sms zu formulieren, wurde mir eine Hand zwischen Handy und Gesicht gestreckt: „Hi, I’m Ayman, the Guest House Manager“. Etwas überrascht nahm ich die Hand entgegen und stellte mich vor. Ich folgte Ayman um die nächste Straßenecke zum „Guest House Cinema Jenin“. Er führte mich sofort in eines der Zimmer und wies mich an, meinen Rucksack dort abzulegen. „Are you hungry?“ „Ähhmm… Ja?!“ „Okay, let’s go!“ Es fiel mir schwer Aymans schnellen Schritten zwischen Taxis, Verkäufern und Obstkartons zu folgen aber ich schaffte es tatsächlich ohne überfahren zu werden oder ein Kind umzurennen. Einen Augenblick später war mir klar, warum alles so schnell gehen musste. Ich hatte ihn beim Mittagessen gestört! Ich fand mich in einem kleinen Restaurant an einem Tisch mit drei Palästinensern wieder, die ich 5 Minuten vorher noch nicht kannte. „Don’t be shy, eat!“ Ich aß. Nach dem Essen gingen wir zurück zum Guest House, Ayman kochte Kaffee und ich erzählte ihm, dass ich im Sommer gerne mit einer YMCA-Gruppe junger Erwachsener nach Jenin kommen würde um das Cinema und das „Freedom Theater“ zu besuchen.
Anschließend an unseren kleinen Kaffeeplausch zeigte mir Ayman das Guest House vom Dach bis zur Lobby und erzählte mir die Entstehungsgeschichte. Wirklich ein wunderschönes Haus mit kleinem Eingangsbereich inklusive Sofas, schönen 9-Bett Zimmern, sauberen Bädern, einer wirklich super eingerichteten Küche mit großem Esstisch, zwei schnuckeligen Balkonen und einer großen Dachterrasse. Sehr empfehlenswert für junge Gruppen, die keinen Luxus brauchen, ein bisschen aufs Geld achten müssen aber trotzdem ein nettes Plätzchen suchen.
Anschließend an die Guest-House-Tour bekam ich noch eine Führung durch das Cinema Jenin, natürlich auch vom Dach bis zum Popcorn-Stand. Es ist fast schon unwirklich so ein großes, tolles, modernes Kino in einer Stadt wie Jenin zu sehen. Das Kultur- und Freizeitangebot in Palästina lässt sehr zu wünschen übrig, was teilweise wiederrum auf die politische Situation zurückzuführen ist. Der Bau des Kinos wurde vom preisgekrönten Stuttgarter Dokumentarfilmer Marcus Vetter initiiert und 2008 begonnen. Das deutsch-palästinensische Friedensprojekt wird vom gemeinnützigen Verein „Cinema Jenin e.V.“ mit Sitz in Tübingen getragen. Mittlerweile zählen das Auswärtige Amt der Bundesregierung, Arte, der SWR, das Goethe Institut und die Fluggesellschaft Air Berlin zu den Sponsoren. In den Räumlichkeiten des Kinos werden aber nicht nur Filme gezeigt. Die Bühne, die große Anzahl an Sitzplätzen und die technischen Möglichkeiten eignen sich hervorragend um Theatervorstellungen, Konzerten, Vorträgen oder Kinderveranstaltungen Raum zu bieten. Das Cinema ist nicht nur ein Friedens-, es ist vielmehr ein Kulturprojekt!
Doch das Projekt umschließt nicht nur die Renovierung, Neueröffnung und Nutzung des Kinos. Einer der Schwerpunkte ist die Etablierung einer regionalen Filmindustrie. Gefördert wird die Ausbildung von jungen Filmemachern einschließlich Schauspielkunst, Kameraführung, Schnitttechnik, Vertonung und Synchronisation. Der größte Erfolg der letzten Jahre „Das Herz von Jenin“ hat es auch in die deutschen Kinos geschafft und 2010 den Deutschen Filmpreis als bester Dokumentarfilm gewonnen.
Nach der kleinen Führung durch das Kino hat mich Ayman noch mit in den Garten des Cinema genommen. Hier soll in den nächsten Monaten ein Open-Air-Kino entstehen. Es gibt drei erhöhte Terrassen auf denen Plastikstühle aufgestellt werden können und eine Bühne auf der gegenüberliegenden Seite. Die Leinwand muss offensichtlich erneuert werden, denn sie ist komplett zerrissen. Ansonsten ist der Garten wirklich geräumig und für palästinensische Verhältnisse sehr hübsch gestaltet. Es sind ein kleiner Spielplatz, ein Pool für Kinder, eine Cafeteria und Grillmöglichkeiten vorhanden.
Anschließend an die drei kleinen Führungen im Guest House, im Cinema und im Garten wollte mir Ayman noch die Altstadt von Jenin zeigen. Ich nahm das Angebot gerne an, weil ich mich in Begleitung eines einheimischen Mannes in einer konservativen und touristenarmen Stadt wie Jenin dann doch wohler fühlte. Er zeigte mir die kleinen, schnuckeligen Gassen, die älteste Schule Jenins und die größte Moschee. Am Ende unserer kleinen Tour blieb er vor einem Haus stehen – „one minute“ – und verschwand darin. Nach einer Minute kam er wieder zurück und bat mich herein. Es war das Haus seiner Eltern. Drinnen warteten schon seine Frau und drei seiner fünf Kinder. Ich setzte mich auf eines der Sofas und wurde herzlich begrüßt. Nach wenigen Minuten kam eine der Töchter und servierte heißen, süßen Schwarztee mit Nana-Minze. Nach und nach erschienen immer mehr Mitglieder der Familie. Die Oma, eine Schwester inklusive Kindern, ein Bruder mit Kindern, eine andere Schwester, ein anderer Bruder, noch mehr Kinder bis irgendwann mindestens 20 Personen in der Wohnung waren. Dann wurde ich in den „Saloon“ gebeten und es gab Abendessen, natürlich auf dem Boden und natürlich wurde alles geteilt. Teller, Gabeln, Messer.
Anschließend wurde arabischer Kaffee serviert, dazu Kekse. Die Kinder, die anfangs noch ganz schüchtern waren und mich nur heimlich beobachteten, waren mittlerweile aufgetaut und versuchten ihre Englischkenntnisse anzuwenden. Am Ende saß ich mit den zwei Töchtern von Ayman und einer Cousine auf dem Fußboden und bekam Arabisch-Unterricht. Sie schrieben mir alle Buchstaben in Englisch und Arabisch in mein kleines Büchlein und suchten jeweils ein passendes Wort in beiden Sprachen. Dann sprachen sie es vor und ich musste es nachsprechen. Es war wirklich zuckersüß wie sie sich bemühten mir in einer Stunde Arabisch beizubringen. Zwischenzeitig wurde natürlich wieder Tee serviert, dann wieder Kaffee.
Nach drei sehr gastfreundlichen Stunden inklusive Essen, Trinken und Arabischunterricht verließen wir das Haus von Aymans Eltern. Ich, in der Gewissheit mich im Guest House ins Bett zu legen und noch ein bisschen zu lesen. Doch es kam anders. Auf der Straße fragte mich Ayman ob ich nicht bei ihm und seiner Familie zu Hause schlafen möchte, seine Kinder hätten ihn schon die ganze Zeit gefragt. Im ersten Moment war ich etwas überrascht – aber – warum eigentlich nicht? Seine Kinder waren sichtlich erfreut über meine Entscheidung und wichen mir ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von der Seite. Wir machten also noch einen Schlenker über das Guest House und ich packte die nötigsten Übernachtungssachen ein. Anschließend fuhren wir mit dem Taxi zu Ayman nach Hause, für ein eigenes Auto reichte das Geld nicht. Die Wohnung bestand aus 4 Zimmern: Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer und „Saloon“ („Kissen-auf-dem-Boden-und-fernseh-Zimmer“). Es wurde Tee getrunken, ferngesehen und – wär hätte es gedacht – noch einmal zu Abend gegessen. Gegen 23 Uhr deutete ich an, dass ich langsam zu Bett gehen wollte, immer noch in der Ungewissheit darüber wo ich letztendlich untergebracht werden würde. Als wäre es selbstverständlich begleitete mich Ayman ins Eltern-Schlafzimmer zum Ehebett und ließ mich unbeholfen dort stehen. Ich drehte mich wieder um und fragte ihn wo er und seine Frau denn dann schlafen würden? Er erklärte mir, dass ich heute Gast sei und mir darüber keine Gedanken machen sollte. Außerdem würden sie sowieso öfter auf den Kissen auf dem Boden im Saloon schlafen. Ich versuchte verzweifelt sie davon zu überzeugen, dass ich wirklich auch dort schlafen könnte aber ich brachte sie natürlich nicht von ihrer Entscheidung ab. Am Ende schlief ich im Ehebett, sie im Saloon auf dem Boden.
Nach 8 Stunden in Jenin hatte ich vier kleine Führungen durch das Guest House, das Cinema, den Garten des Cinema und die Altstadt bekommen. Ich hatte weder für das Mittagessen, noch für das erste oder das zweite Abendessen etwas bezahlt. Ich hatte unzählig viele Tees und Kaffees getrunken, eine ganze Großfamilie kennen gelernt, wurde am Ende vom Guest-House-Manager zum Übernachten eingeladen und verbrachte die Nacht schließlich im Ehebett.
Wir können so viel von anderen Menschen, Kulturen und Lebensweisen lernen. Von den Palästinensern können wir lernen was die Begriffe Familie, Gastfreundschaft und Herzlichkeit wirklich bedeuten.