In Hebron sind meine Hoffnung, meine Zuversicht und mein Glaube an eine Lösung dieses Konflikts gestorben! … „Inschallah“ liege ich falsch!
Ich denke ich muss Hebron zu den schrecklichsten Erfahrungen hier und vielleicht überhaupt zählen. „In Hebron ist der Nahostkonflikt wie unter einem Brennglas zu beobachten.“ (Die Zeit)
Bisher habe ich immerzu versucht nicht zu Pro-Palästinensisch zu werden und mich nicht zu sehr gegen Israels Politik auszusprechen. Ich habe mich bemüht immer die Geschichte des jüdischen Volkes zu berücksichtigen und mich auch in israelische Ansichten hineinzuversetzen. Ich habe mir vorgenommen einmal mit einem jüdischen Siedler über seine Meinung zu sprechen und offen zu bleiben für andere Perspektiven. Seit meinem Aufenthalt in Hebron ist das anders. Ich habe jegliches Verständnis für die Siedlungsbewegung und den Zionismus verloren. Ich kann wirklich nicht verstehen, wie die internationale Gemeinschaft, die Europäische Union und vor allem Deutschland und die USA diese Politik tolerieren und sogar noch unterstützen können! Ich werde zukünftig auch keinem gläubigen Christen mehr zuhören, der die israelische Siedlungspolitik mit der „Verheißung Gottes für das jüdische Volk“ rechtfertigt!
Für die Situation und Hebron gibt es einfach keine Rechtfertigung!
Hebron wurde 1967 während dem Sechs-Tage-Krieg von Israel besetzt. Seither hat sich in der palästinensischen Stadt eine extremistische zionistische Community niedergelassen. Sie sehen ihren Auftrag darin, die Stadt aus den Händen der Palästinenser zu befreien und damit „Gottes Wille für das jüdische Volk“ zu erfüllen. Da sie immer wieder versuchen neue Territorien zu besetzen und zu annektieren kommt es regelmäßig zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern. Seit 1994 ist Hebron in zwei Zonen (H1 und H2) unterteilt. In H1 sind die Palästinenser für die Sicherheit zuständig, in H2 die Israelis. In H2 haben rund 800 nationalreligiöse Siedler insgesamt 5 illegale israelische Siedlungsblocks innerhalb der Altstadt Hebrons errichtet, viele palästinensische Häuser besetzt und die Menschen vertrieben. Seither haben 1500 Soldaten den Auftrag die jüdischen Siedler vor den Palästinensern zu „beschützen“. In der Realität müssten eigentlich 200.000 Palästinenser vor 800 jüdischen Siedlern beschützt werden. Die Bewegungsfreiheit der rund 30.000 Palästinenser in H2 ist stark eingeschränkt. Sie dürfen die Haupt-Durchgangsstraße (Al-Shuhada-Street) und einige weitere Straßenzüge überhaupt nicht benutzen. Andere Straßen dürfen nur zu Fuß betreten werden und sind für palästinensische Autos verboten. Die israelischen Siedler genießen hingegen völlige Bewegungsfreiheit. In der Altstadt Hebrons sind ganze Straßenzüge ausgestorben, wie in einer Geisterstadt. Tausende Läden geschlossen, die Menschen aus ihren Wohnungen geflohen und nie zurückgekehrt. Wo früher bunte Märkte und geschäftiges Treiben waren, findet man jetzt Straßenblockaden, Mauern, Stacheldraht, Wachtürme und Checkpoints. Handwerker und Verkäufer wurden durch patrouillierende Militärfahrzeuge ersetzt und spielende Kinder durch Soldaten.
„Das Herz Hebrons ist gestorben“ (Die Zeit)
Es gibt viele internationale Organisationen in Hebron, die an Checkpoints Präsenz zeigen um Menschenrechtsverletzungen und Demütigungen vorzubeugen oder diese zu dokumentieren. Andere begleiten Schulkinder auf ihrem Weg zur Schule um diese vor gewaltsamen Attacken der jüdischen Siedler zu schützen. Wieder andere überwachen Demonstrationen oder werden bei aktuellen Auseinandersetzungen zu Hilfe gerufen. Der Teil des arabischen Souq in der Altstadt, der noch nicht ausgestorben ist, sondern noch ums Überleben kämpft ist mit Gittern überdacht um die Menschen vor den Angriffen aus den Siedler-Wohnungen darüber zu schützen. Doch die Gitter können leider nicht vor allem schützen. Nicht vor Eiern, auch nicht vor Urin und nicht vor, mit giftigen oder stinkenden Chemikalien versetztem Wasser. Erst recht nicht vor Worten! Die Fenster und Balkone der Häuser die an annektierte Siedler-Häuser angrenzen sind ebenfalls vergittert, teilweise mit Metallplatten komplett verschlossen. Sogar die Fenster und Türen der Schulen in Zone H2 sind komplett vergittert um die Schüler vor Übergriffen der Extremisten zu schützen. Es gibt viele Mittel, um den Menschen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Je schneller sie ihre Häuser freiwillig räumen, weil sie die Situation nicht mehr ertragen, desto besser! Die Palästinenser werden beschimpft, bedroht, bespuckt, attackiert. Regelmäßig werden Fensterscheiben zertrümmert, Stromkabel abgekappt oder die Wassercontainer auf den Dächern der palästinensischen Häuser beschossen um die Wasservorräte zu vernichten. Wahrscheinlich gibt es in Hebron niemanden, der nicht eine persönliche Schreckensgeschichte zu erzählen hat. Das größte Problem ist, dass Zone H2 quasi ein rechtsfreier Raum ist. Die israelische Armee ist dort zwar für die Sicherheit zuständig, allerdings nur für die der israelischen Siedler. Die Palästinenser werden in diesem Sicherheitskonzept nicht berücksichtigt und die palästinensischen Sicherheitskräfte dürfen in dieser Zone nicht agieren. Im Klartext bedeutet das, dass die Übergriffe der radikalen Juden von niemandem verhindert werden und sie auch bei keiner Instanz für ihre Vergehen angeklagt werden können. Die Palästinenser haben keine Möglichkeit sich friedlich oder mit Waffengewalt zu wehren, weil sie sofort von den israelischen Soldaten festgenommen werden würden. Die Angst davor ist groß, denn es gibt tausende Palästinenser die jahrelang ohne Anklageerhebung und Gerichtsverhandlung in Verwaltungshaft gehalten werden. Andere werden vor Militärgerichten verurteilt. Jährlich werden etwa 800 palästinensische Kinder zwischen 8 und 18 Jahre festgenommen und inhaftiert, meist unter abgrundtief schrecklichen Bedingungen. Erst letzte Woche hat die Menschenrechtsorganisation „B‘Tselem“ die unrechtmäßige Festnahme von 27 Minderjährigen (14 davon unter 12 Jahre) dokumentiert und veröffentlicht.
Ich habe mich immer schon gefragt, wie es sein kann, dass Menschen eine Ideologie über ein Menschenleben stellen? Wie können Menschen, Menschen so etwas antun? Wozu sind wir noch fähig? Die Geschichte zeigt, dass Weltanschauungen Menschen wirklich zu allem befähigen. Doch welche Macht Ideen, Religion und Glaube haben wurde mir erst in Hebron bewusst. Seit meinem ersten Besuch in Hebron hat mich diese Stadt nicht mehr losgelassen. Doch es ist nicht nur die Unerträglichkeit der Situation die mich beschäftigt. Es ist vielmehr der Kontrast zwischen den Lebensbedingungen der Menschen einerseits und ihrer unendlichen Fröhlichkeit und Lebensfreude andererseits. Wie herzlich und freundlich sie einem begegnen, wie interessiert sie sind und wie sie sich freuen, dass sich jemand für ihre Stadt und die Umstände interessiert. Ich finde es unendlich bewundernswert wie sie versuchen eine lebensunwürdige Situation lebenswürdig zu gestalten. Wie sie ihr Leben um diese Situation herum bauen und immerzu bemüht sind das Beste daraus zu machen. Aber ist das nicht am Schlimmsten? Dass es für sie nicht mehr so schlimm ist! Sie haben sich so an diesen Zustand gewöhnt, dass sie unter diesen Bedingungen ein „normales“ Leben führen können. Ein Ausnahmezustand ist zum Alltag geworden. Ihre Kinder wachsen unter diesen Bedingungen auf und kennen es nicht mehr anders. Eine ganze Generation wird niemals erfahren wie es ist selbstbestimmt und in Freiheit zu leben. Ohne tagtäglich Schikanen, Erniedrigungen und erheblichen Einschränkungen ausgesetzt zu sein. Wenn ich über Hebron nachdenke überkommt mich jedes Mal dieselbe Wut. Diese Ungerechtigkeit und Ausweglosigkeit ist unerträglich. Wie können die Menschen das alles über sich ergehen lassen? Wie schaffen sie es nach all den Jahren immer noch friedlichen Widerstand zu leisten? Wer kann es ihnen verdenken, wenn sie zur Waffe greifen? – Ich nicht!
Ich bin nach Hebron gefahren, habe die Verhältnisse gesehen, mit den Menschen geredet und ihre Geschichten gehört. Doch was bleibt? Ein bescheidener Versuch Solidarität zu zeigen? Eigentlich bleibt nur eines: Machtlosigkeit und Handlungsunfähigkeit! Es ist ein unfairer Kampf und die Welt schaut zu.
David gegen Goliath. Was für eine Ironie der Geschichte!